Gegen Fachkräftemangel hilft gute Arbeit
An der Kneipentür hängt ein Zettel: Wir stellen ein. Auf dem Lkw prangt ein Hinweis: Fahrer (m/w/d) gesucht. Die Bäckerei schränkt ihre Öffnungszeiten wegen Personalmangels ein. Polizei und Handwerk versuchen, mit flotten Sprüchen junge Menschen zu gewinnen. Es herrscht Fachkräftemangel allerorten. Wirklich?
Der Blick auf den Arbeitsmarkt bietet ein differenziertes Bild. Die Arbeitslosenquote liegt in Baden-Württemberg konstant unter vier Prozent. Von den 4,7 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben 665.878 keinen Berufsabschluss. Aber: Mehr als 400.000 Menschen sind arbeitssuchend. Jeder dritte Erwerbslose ist langzeitarbeitslos. Bei Menschen mit Migrationsgeschichte ist die Arbeitslosigkeit mit mehr als neun Prozent besonders hoch.
Es drängt sich der Verdacht auf: Das Gejammere der Arbeitgeberverbände über den ach so riesigen Fachkräftemangel soll von eigenen Versäumnissen ablenken. Viele Politiker*innen übernehmen diese Erzählung leichtfertig und kommen mit untauglichen Vorschlägen um die Ecke: der Rente mit 70 und einem Zwölf-Stunden-Tag. Das ist Augenwischerei. Denn laut Lehrbuch müsste ein flächendeckender Fachkräftemangel die Entgelte stark steigen lassen. Das stimmt für den Niedriglohnbereich. Hier macht sich der höhere Mindestlohn von zwölf Euro positiv bemerkbar. Insgesamt sind jedoch die Reallöhne unter Druck geraten.
Ja, es gibt Fachkräfteengpässe. Ja, es wird schwieriger, frei werdende Stellen wieder zu besetzen. Laut Bundesagentur für Arbeit geht in Baden-Württemberg bis 2040 etwa die Hälfte der Facharbeiter - rund 1,2 Millionen -in den Ruhestand. Rein rechnerisch werden jährlich 66 000 Menschen mit abgeschlossener Ausbildung benötigt, um die Lücken zu füllen. Mehr denn je darf niemand zurückgelassen werden. Viel zu lange hat sich unsere Gesellschaft den Luxus geleistet, Menschen in Schulen auszusieben und vom Arbeitsmarkt auszuschließen. Künftig wäre das doppelt frevelhaft: für die Individuen und für die Gesellschaft.
Auf die Rahmenbedingungen kommt es an: Mit ausreichend leistbaren Wohnungen, einem ausgebauten ÖPNV und passgenauen Kinderbetreuungsangeboten können Land und Kommunen richtiges tun. Weitere Weichenstellungen müssen erfolgen. Fünf Punkte schlagen wir vor, damit es heute und morgen genügend Fachkräfte gibt.
1. Noch lange bekommen nicht jeder, der oder die sich für eine Ausbildung interessiert, eine Einstiegsmöglichkeit in einen Wunschberuf. Beinahe jeder vierte Jugendliche bricht die Ausbildung ab. Das deutet auf weit verbreitete Qualitätsprobleme hin. Insgesamt müssen die Betriebe weit mehr ausbilden. 80 Prozent beteiligen sich gar nicht an der dualen Ausbildung. Wir schlagen eine Ausbildungsgarantie vor, die durch eine Ausbildungsumlage finanziert wird.
2. Baden-Württemberg hat eine der höchsten Weiterbildungsquoten. Doch gerade Frauen und Beschäftigte in kleinen und mittleren Betrieben profitieren zu wenig von Weiterbildung. Da muss ein Umdenken in den Chefetagen stattfinden. Wie wäre es, wenn künftig ein Tag in der Woche der Weiterbildung dient? Auch die Politik kann einiges tun: eine Bildungsteilzeit und ein Qualifizierungsgeld einführen, wie es im Koalitionsvertrag der Ampel steht. Zeitgemäß ist ein Rechtsanspruch auf Qualifizierung. Richtig angewandt, wird das neue Bürgergeld helfen, Langzeitarbeitslose wieder dauerhaft in Beschäftigung zu bringen.
3. Frauen sind bestens qualifiziert und werden dringend als Fachkräfte gebraucht. Doch "The Länd" ist immer noch das Land der Zuverdiener-Ehe. Viele Frauen würden gerne mehr arbeiten, doch es hakt bei der Kinderbetreuung. Mehr Arbeiten muss sich lohnen: Steuerklasse V und Ehegattensplitting müssen abgeschafft werden.
4. Wir sind Einwanderungsland und auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Ihnen müssen wir offene Türen bieten. Dazu gehört auch ein Schutzschirm gegen Ausbeutung. Genauso müssen Geflüchtete, die bei uns Schutz suchen, eine Arbeit aufnehmen dürfen. Hürden wie mangelnde Sprachkenntnisse oder die Anerkennung von Abschlüssen müssen abgebaut werden. Integration durch Arbeit ist eine Erfolgsgeschichte. Diese müssen wir fortschreiben.
5. Wer nach Tarif bezahlt wird, verdient mehr. Doch nur noch jeder zweite Beschäftigte profitiert vom Tarifvertrag. Wo es wenig Tarifbindung gibt, ist der Mangel an Fachkräften besonders groß, etwa im Handel, im Handwerk, in der ambulanten Pflege. Als Unternehmen punktet, wer den Beschäftigten die Arbeitszeiten bieten, die zum Leben passen. Politik ist gefordert, mit entsprechenden Gesetzen Tarifbindung attraktiver zu machen. Was in den 90er Jahren Standard war, muss auch heute gelten: Tarifverträge sind der wesentliche Rahmen für die Arbeitswelt.
Letzte Änderung: 23.12.2022