9-Euro-Ticket - nur Testballon?

Vorschaubild

23.07.2022 Startschuss für ÖPNV-Ausbau!

Der Erfolg des 9-Euro-Tickets zeigt: Millionen Bundesbürger*innen warten darauf, dass Bahn und ÖPNV saniert und ausgebaut werden - und für alle bezahlbar sind. Das ist der Auftrag an die Bundesregierung. Die Schuldenbremse führt aufs Abstellgleis. Nur mit massiven Investitionen in Infrastruktur und Personal ist eine Verkehrswende mit einem starken öffentlichen Mobilitätsangebot machbar.

Was kommt nach dem 9-Euro-Ticket? Die Diskussion um seine Zukunft ist im vollen Gange. Kein Wunder, es ist für sehr viele Bundesbürger*innen attraktiv: Im Juni wurden rund 21 Millionen Tickets gekauft. Nur scheint dieser Erfolg nicht allen geheuer zu sein. Verkehrsminister Wissing ist das Ticket - anders als dem Klimaschutz-Sofortprogramm der Bundesregierung - dauerhaft zu teuer. Stattdessen kündigt er die große Reform des Nahverkehrs an. Geht es eigentlich um die Schuldenbremse?

Hilft das gegen steigende Energiepreise, die im Herbst die Taschen der Kunden noch schneller leeren könnten? Und wie will der Verkehrsminister die Klimaziele einhalten? Die Emissionswende lässt im Verkehr weiter auf sich warten: 1990 emittierte der Sektor in Deutschland 163 Millionen Tonnen CO2. 2019, im Jahr vor der Pandemie, waren es 164 Millionen Tonnen. Bis 2030 müssen sie auf 85 Millionen Tonnen sinken. Und in 23 Jahren muss unsere Mobilität klimaneutral sein. Höchste Zeit anzufangen.

Aus Sicht des DGB geht das 9-Euro-Ticket in die richtige Richtung. Für die sozial-ökologische Verkehrswende brauchen wir dauerhaft attraktive Angebote. Aber damit sie wirksam sind, muss massiv in Infrastruktur, Fahrzeuge und Personal investiert werden, um den Verkehr auf umweltverträglichere Verkehrsträger zu verlagern und für gute und sichere Beschäftigung zu sorgen.

Eine erste Bilanz
Das 9-Euro-Ticket zielt auf eine schnelle Entlastung derjenigen, die nicht vom Tankrabatt profitieren. Trotzdem wurde der Zeitpunkt für die Einführung kritisiert. Juni und Juli sind Bau-Monate, in denen viele Strecken gesperrt sind. Auch führt der Reiseverkehr in den Sommermonaten ohnehin zur punktuellen Überlastung der Infrastruktur.

Zudem sind die Einspareffekte im Vergleich zu den normalen Kosten des Pendelns oft nicht so groß. Moniert wurde, dass von September bis November, wenn die Ferienzeit vorüber ist und der Alltagsverkehr mehr Gewicht hat, die Erkenntnisse für verändertes Verkehrsverhalten repräsentativer wären.

Nichtsdestotrotz sorgt das 9-Euro-Ticket für mehr soziale Gerechtigkeit. Vor Einführung des Tickets galt: Es wird nur Bahn gefahren, wenn nicht jeder Euro umgedreht werden muss. Jetzt kann jede*r günstig nach Sylt reisen. Auch Haushalte mit wenig Geld können am gesellschaftlichen und ökonomischen Leben teilnehmen. Das eingesparte Geld bei Bus- und Bahnfahrten eröffnet die Chance, sich beim Einkaufen mal etwas zu gönnen. So macht das 9-Euro-Ticket das Leben zumindest für drei Monate etwas besser.

Der große Erfolg des 9-Euro-Tickets lässt sich an 21 Millionen neuen Kund*innen (hinzu kommen 10 Millionen Abonnent*innen) ablesen. Die Deutsche Bahn hat im Regionalverkehr rund zehn Prozent mehr Fahrgäste. Zugfahren ist nicht nur klimapolitisch notwendig, sondern auch eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Der erste Auftrag an die Politik ist klar: Sie muss dafür sorgen, dass Bahnfahren auch ab September für alle bezahlbar bleibt.

Darüber hinaus hat das 9-Euro-Ticket den Zustand der Bahn offengelegt. Die aktuelle Schienen-Infrastruktur ist momentan nicht in der Lage, so ein Angebot dauerhaft anzubieten. Es fehlt an Fahrzeugen und Personal, eingleisige Verbindungen dulden oft keine zusätzlichen Fahrten. Zudem wurde das deutsche Schienennetz jahrzehntelang zurückgebaut. Seit 1955 wurden 15.000 Kilometer Bahnstrecke stillgelegt (Stand 2021). Insbesondere die negativen Auswirkungen des Sparkurses für den später abgesagten Börsengang sind jetzt noch einmal deutlich geworden.

Auch im Interesse der Beschäftigten müssen schneller leistungsstarke Kapazitäten verfügbar werden, durch Sanierung und Ausbau. Zwar ist flächendeckendes Chaos bisher ausgeblieben, aber Zugausfälle, Verspätungen und schlechte Taktung führten zu unnötigem Reisestress. Auf beliebten Strecken waren die Züge erwartungsgemäß überfüllt, manchmal mussten Hunderte Passagiere auf den Bahnsteigen zurückbleiben. Züge konnten wegen Gedränge auf den Bahnsteigen nicht rechtzeitig abfahren. Das 9-Euro-Ticket wurde hier zu Recht als "Belastungspaket" für die Bahn-Mitarbeitenden bezeichnet.

Natürlich ist es zu früh, um Bilanz zu ziehen und gesicherte Aussagen über Änderungen des individuellen Verkehrsverhalten zu treffen. Frühestens im Juli kann mit ersten Forschungsergebnissen gerechnet werden. Aber die Sommer- und Ferienmonate könnten ertragreicher sein als vermutet, weil Menschen in ihrer Freizeit eher bereit sind, von ihren Gewohnheiten abzuweichen und Mobilität mit Bussen und Bahnen auszuprobieren. Erste Hinweise darauf gibt es bereits.

Das eigentliche Ziel, Pendler*innen von steigenden Energiepreisen zu entlasten, wird vermutlich nicht erreicht: das 9-Euro-Angebot wird vornehmlich in der Freizeit genutzt. Nach einer Civey-Umfrage gaben Mitte Juni nur 32 Prozent an, dass sie mit dem Ticket zur Arbeit fahren oder Dienstreisen damit erledigen. Die meisten nutzen das Ticket für Tages- (55 Prozent) und Wochenendausflüge (33 Prozent). Auch für Shoppingtouren wird es gerne verwendet (47 Prozent). Für die Urlaubsplanung spielt es dagegen kaum eine Rolle.

Günstige Ticketpreise können zwar Anreiz sein, das Auto mal stehen zu lassen. In 23 von 26 untersuchten Städten ist das Stauniveau nach der Einführung des 9-Euro-Tickets zurückgegangen. Aber ÖPNV und Bahn werden erst zur echten Alternative, wenn nicht nur der Preis, sondern auch der Service (Infos, Sauberkeit, Sicherheit) stimmen. Das wird nur mit ausreichend und gut ausgebildetem Fachpersonal gelingen. Insgesamt braucht es ein Verkehrsangebot mit hoher Qualität: Kurze, verlässliche Taktung, einfaches Umsteigen, kurze Fahrzeiten, mehr Komfort.

Das 9-Euro-Ticket ist bisher Großstadtpolitik
Ob mit oder ohne 9-Euro-Ticket - viele Pendler*innen haben die Option gar nicht, auf das Auto zu verzichten, daher wird der Effekt auf die Umwelt begrenzt sein. Selbst für Berufspendler aus dem städtischen Umland gibt es kaum neue Angebote. In schlecht angebundenen Regionen ändert das Ticket gar nichts. Auch ein Angebot für Fernpendelnde fehlt.

Aus DGB-Sicht ist es wichtig, dass die Verkehrspolitik gleichermaßen auch die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen außerhalb der Ballungsräume in den Blick nimmt. Laut einer Mobilitätsstudie der Deutsche-Bahn-Tochter "ioki" ist der ÖPNV für etwa 55 Millionen Menschen in Deutschland oft nicht ausreichend vorhanden. Nur circa 27 Millionen Bürger*innen vor allem in Großstädten und Metropolregionen steht ein guter ÖPNV potenziell zur Verfügung. Eine ausreichende öffentliche Verkehrsanbindung mit mehr als 30 Abfahrten am Tag bestehe nur für etwa 63 Prozent der Bevölkerung auf dem Land.

Damit auch Menschen in ländlichen Regionen profitieren, ist ein Konzept für die flächendeckende Versorgung mit öffentlichem Verkehr die Voraussetzung. Die Taktung muss wesentlich dichter sein, die Umstiege müssen verlässlich funktionieren, sonst verdoppelt sich die Reisezeit schnell.

Für den DGB kann das 9-Euro-Ticket deshalb nur der Auftakt für einen entschlossenen ÖPNV-Ausbau sein. Dieser Ausbau muss flankiert werden von einer Umgestaltung der Verkehrsinfrastruktur (Bus- und Radspuren, moderne Fahrzeuge, Ladesäulen und digitale Infrastruktur), von mehr Bus- und Bahnangeboten, einer guten Verknüpfung mit individuellen Mobilitätsformen und nicht zuletzt attraktiven Arbeitsbedingungen, um mehr Personal zu gewinnen. Gelingt dieser Weg nicht, rückt das ausgegebene Ziel, 2030 doppelt so viele Fahrgäste mit Bus und Bahn zu transportieren, in weite Ferne.

Letzte Änderung: 18.07.2022